Der Literaturschnack im Juni 2024
Rückblick auf den Literaturschnack im Juni 2024
Rückblick auf den Literaturschnack im Juni 2024
Der letzte Literaturschnack vor der Sommerpause am 12. Juni war in größerer Runde wieder einmal eine sehr erfreuliche Veranstaltung. Trotz zwiespältiger Lektüretipps war gute Laune und Spaß an den Besprechungen allerorten vorhanden. Diesmal standen ungeplant Beziehungen zwischen Frauen und Männern im Mittelpunkt. Ein sehr schöner Abschluss des ersten Halbjahres.
Die Tipps im Einzelnen:
Romane und Erzählungen:
- Jenny Erpenbeck: Kairos, 2021 (in der Bibliothek sowie der Onleihe24 als Buch und Hörbuch vorhanden)
Die in Ostberlin geborene, mit vielen Literaturpreisen gekrönte Autorin hat für diesen Roman den diesjährigen International-Booker-Preis erhalten. Darin zerlegt sie aufs Schmerzhafteste eine Liebesbeziehung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau. Hans, Journalist und Schriftsteller, Mitte 50, verheiratet und Katharina, 19, angehende Grafikerin, treffen sich zufällig in Ostberlin und kommen die nächsten Jahre nicht mehr voneinander los. Und nebenher verschwindet die DDR im Zuge der Wiedervereinigung. Episch erzählt, literarisch sehr gekonnt, ist diese neudeutsch „toxische Beziehung“ inhaltlich schwer zu ertragen.
- John Marrs: The marriage act, 2023 (in der Bibliothek vorhanden, in der Onleihe24 nicht vorhanden)
Dieser klassische Roman spielt im England der nahen Zukunft. Die Regierung hat erkannt, dass verheiratete Bürger*innen gesünder, glücklicher und produktiver sind, als nicht verheiratete Personen. Ein Gesetz wird erlassen, das allen Ehepaaren Privilegien einräumt. Einziger Haken: sie müssen sich damit einverstanden erklären, 10 Minuten täglich durch KI überwacht zu werden. Sollte sich dabei herausstellen, dass es Schwierigkeiten in der Beziehung gibt, werden Gegenmaßnahmen getroffen, die man nicht ablehnen darf …
Interessantes Gedankenspiel, sehr moderne Geschichte zur Erweiterung der Kontrollmöglichkeiten der Regierung durch KI über ihre Bevölkerung. Klare Leseempfehlung.
- Juli Zeh: Corpus delicti, 2009 (in der Bibliothek sowie der Onleihe24 vorhanden)
Zum vorherigen Lektüretipp passender Roman der vielseitigen Autorin und gelernten Juristin, ebenso in der nahen Zukunft in einem diktatorischen Staat namens „Die Methode“ spielend: die körperliche Gesundheit ist zur obersten Bürgerpflicht geworden. Ein Chef-Ideologe des Überwachungsstaats, der Richter Heinrich Kramer (Name des Verfassers des mittelalterlichen Hexenhammers), setzt sich in einem Prozess mit der Biologin und Angeklagten Mia Holl (Maria Holl ist der Name einer verurteilten Hexe) auseinander, die passiven Widerstand leistet und dem Staat den Selbstmord ihres Bruders anlastet. Mosaikartige Entwicklung der Romanhandlung, zum Teil hölzerne, karikaturhafte Charaktere, trotzdem klare Leseempfehlung auch wegen der Aktualität des Themas.
- Pascale Hugues: Mädchenschule, 2021 (in der Bibliothek sowie in der Onleihe24 nicht vorhanden)
Ein erfreulicher Blick zurück in das Elsass ab den 1950-er Jahren, auf Frauen einer Generation, die weitgehend unter dem Radar blieb. Die Autorin, ausgesprochene Kennerin der deutsch-französischen Beziehungen und der regionalen Unterschiede innerhalb Frankreichs, stößt auf ihr altes Poesiealbum. Bei einem Klassentreffen ergreift sie die Gelegenheit, ihre einstigen Mitschülerinnen zu interviewen. Es kommt eine überzeugende Mischung unterschiedlicher Lebensentwürfe zusammen, die diese Generation exemplarisch nach Möglichkeiten bzgl. Beruf, Familie und selbstbestimmtem Handeln darstellt. Empfohlen.
- Annette Mingels: Der letzte Liebende, 2023 (in der Bibliothek vorhanden, in der Onleihe 24 nicht vorhanden)
Das Thema dieses Romans ist der alte weiße Mann. Es geht um den charismatischen Chemieprofessor in seinen 80-ern, der ständig Affären hatte. Nun liegt seine Frau im Sterben, er ist zusehends einsam. Seine Stieftochter, die zeitlebens ein angespanntes Verhältnis zu ihm hatte, schlägt ihm eine Reise nach Ostdeutschland und Polen zu seinen Geschwistern vor. Er, der in jeder neuen Beziehung auf der Suche nach dem Lebensglück war, bleibt dort distanziert und kann keine Beziehung zu seiner Vergangenheit herstellen. Mingels betreibt keine Schwarzweißmalerei und liefert mit jedem Kapitel neue Gefühlsebenen. Hallt nach, kein Me-too-Roman.
- Iain Pears: Das Portrait, 2007 (in der Bibliothek und der Onleihe24 nicht vorhanden)
In diesem hervorragenden Kammerspiel rechnet der Autor mit dem Kunstbetrieb und seinen Auswüchsen ab. Ein Kritiker, der sich auf einer einsamen Insel von einem Maler porträtieren lässt, wird während der Sitzungen mit den Konsequenzen konfrontiert, die aus z.T. hochtrabenden Kritiken gegenüber der Kunst erwachsen. Monologartig steuert der Künstler beim Malen auf den Höhepunkt des Romans zu. (Erstmals vorgestellt am 2.3.2022)
- Shibasaki Tomoka: Frühlingsgarten, 2018 (in der Bibliothek sowie in der Onleihe24 nicht vorhanden)
Handlungsarmer Roman aus Japan, der durch einen ganz eigenen Schreibstil und fast meditative Lesemomente überzeugen kann. Er verdeutlicht die Einsamkeit und die Losgelöstheit moderner japanischer Großstadtmenschen von der Gesellschaft in Gedanken und traumhaften Sequenzen.
In einem zum Abriss vorgesehenen Haus in Tokio wohnt der junge Taro. Sein Sehnen gilt der blauen Villa auf der anderen Straßenseite. Auch eine junge Mangazeichnerin hat großes Interesse an diesem Haus, darüber lernen sie sich oberflächlich kennen. Aber aus diesem Kennenlernen erfolgt keine Beziehung, gemeinsame Unternehmungen wie Essen gehen führen zu keinem tieferen Interesse aneinander. Von westlichen Lesenden könnte dieser Roman als oberflächlich rezipiert werden. Geschmackssache.
- Annette Pehnt: Die schmutzige Frau, 2023 (in der Bibliothek sowie der Onleihe24 nicht vorhanden)
Auch in diesem Buch geht es um die Beziehung zwischen Frau und Mann am Beispiel eines Ehepaars in den besten Jahren. Die Kinder sind aus dem Haus, die Frau hat sich immer ohne Klagen an den dominanten Mann angepasst. Nun bestimmt dieser, dass sie aus dem gemeinsamen Haus in eine eigene Wohnung ziehen soll, die er ihr beschafft hat. Dort sitzt sie nun tagein tagaus, schreibt Geschichten über nicht perfekte Frauen, die im Buch eingeschoben sind, guckt aus dem Fenster auf den Marktplatz und tut ansonsten nichts. Ihr Mann versorgt sie, da sie ihre Wohnung nicht verlässt. Sie ist nicht unzufrieden mit diesem Leben, sondern dümpelt antriebs- und interessenlos vor sich hin. Dieser Text ohne Punkte lässt Lesende etwas ratlos zurück, ob des merkwürdigen Verhaltens der Protagonisten bleibt der Eindruck zwiespältig. Passt von der Handlungsarmut und Antriebslosigkeit zum vorherigen Titel. Trotzdem besonders.
Sachbücher:
- Susanne Schröter: Global gescheitert, 2022 (in der Bibliothek vorhanden, in der Onleihe24 nich vorhanden)
Die studierte Islamwissenschaftlerin und Ethnologin erklärt den demokratischen Wertekanon der westlichen Welt einfach aber nicht schlicht oder plakativ. Sie erweitert den politischen Horizont der Lesenden wertefrei mit Grundwissen zum Thema Freiheit, Demokratie, Migration, Cancel-Culture etc. und ermöglicht damit eine unabhängige Auseinandersetzung mit aktuell politischen Fragen. Auch für Schüler*innen sehr geeignet.
- Susanne Schröter: Allahs Karawane, 2021 (in der Bibliothek vorhanden, in der Onleihe24 nicht vorhanden)
Hier breitet die Autorin ihr fundiertes Wissen über die islamische Weltbevölkerung und ihre mannigfachen Untergruppen aus. Dabei werden auch die Konflikte zwischen den einzelnen Strömungen behandelt. So werden regionale Spielarten durch das Erstarken des autoritären Islamismus bedroht. Erleichtert das Verständnis und den Umgang mit Anhängern des Islam hierzulande und ermöglicht eine geistige Emanzipation von als allgemeingültig erachteten, gängigen Meinungen.
Der nächste Literaturschnack findet statt am Mittwoch, 11.09.2024 um 9.30 Uhr im zib. Eine Anmeldung ist erforderlich.