Auch der Regen hielt die zahlreichen Teilnehmenden diese Literaturschnacks nicht davon ab, sich im zib zum kenntnisreichen und unterhaltsamen Austausch über Literatur zu treffen.
Ein Schwerpunkt lag bei Familiengeschichten. Der kurze Ausflug zum Thema: Wann ist fiktionale Literatur gute Literatur? Inwieweit ist es angemessen, autobiografisch zu schreiben, kann das dann noch fiktionale Literatur sein? Können auch Sachbücher emotional berühren? Muss das Interesse über das sprachliche Vermögen der Autoren kommen, oder können auch bestimmte Themen einige Lesende eher anziehen, als andere? brachte natürlich keine allgemeingültigen Antworten, sondern die Einsicht: die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters, was dem Einen gefällt, muss der Anderen noch lange nicht zusagen.
In diesem Sinne: machen Sie sich wie immer selbst ein Bild. Hier die Tipps im Einzelnen:
Romane und Erzählungen:
Selahattin Demirtas: Kaltfront, 2023 (in der Bibliothek vorhanden, in der Onleihe24 nicht vorhanden)
In zahlreichen Kurzgeschichten gibt der kurdisch-türkische Schriftsteller und Politiker Demirtas dem einfachen und armen Volk der Türkei eine Stimme. So geht es z.B. um Busfahrer, Einwohner abgeschiedener Bergdörfer, junge arbeitslose Männer, viele im ausweglosen Kampf um ein gutes Einkommen und ein gutes Leben. Der seit 2016 inhaftierte Demirtas schreibt aus dem Gefängnis und kennt die Ohnmacht gegenüber dem Staatsapparat aus eigener Erfahrung. Märchenhaft, eindringlich, poetisch, empfohlen.Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht, 2024 (in der Bibliothek vorhanden, in der Onleihe24 nicht vorhanden)
Beeindruckende Beschreibung einer Familie im Grenzland Österreichs, die nur noch weg möchte aus dem Dorf, in dem sie lebt. Erzählt aus der Sicht der 12-jährigen Tochter werden die Themen Rechtspopulismus, Katholizismus und Streben nach Reichtum in dieser starken Coming-of-Age-Geschichte behandelt. Der Tod eines Jungen während einer Mutprobe spielt dabei eine gewichtige Rolle. Einziger Kritikpunkt: die Erzählstimme passt nicht zum Alter des Mädchens. Absolute Leseempfehlung.Marina Lewycka: Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch, 2006 (in der Bibliothek nicht vorhanden,in der Onleihe24 vorhanden)
Ein 84-jähriger, einsamer Mann mit zwei Töchtern möchte auf seine alten Tage eine üppige Ukrainerin heiraten, was die beiden Töchter, die seit einiger Zeit nicht miteinander gesprochen haben, auf den Plan ruft. Einziger Lichtblick in diesem eher nicht empfohlenen Roman mit unsympathischen Protagonisten ist der retrospektive, liebevolle Blick des Mannes auf die Technik. Aber die Ausnutzung des Alten für das Bleiberecht und die folgende Schlammschlacht machen den Roman schwer erträglich.
Tiny love stories: wahre Geschichten über das größte Gefühl der Welt, 2022 (in der Bibliothek sowie der Onleihe24 nicht vorhanden)
Die New York Times hatte ihre Leser aufgerufen, Geschichten über die Liebe mit maximal 100 Wörtern einzusenden. Die besten 175 fanden den Weg in dieses Buch. Fast philosophisch sind die mal heiteren, mal traurigen, mal platonischen, mal erfüllten Texte Labsal für die Seele. Zum Verschenken für den Lieblingsmensch sehr geeignet.
Michel Bergmann: Mameleben, 2023 (in der Bibliothek sowie der Onleihe 24 nicht vorhanden)
In diesem durch eigene Erlebnisse und Erfahrungen geprägten Roman setzt sich der Berliner Autor mit jüdischen Wurzeln mit seiner Mutter auseinander. Wiewohl die alleinerziehende Mutter und ihr Sohn sich durchaus lieben, trägt diese Liebe jedoch viele toxische Züge. Kennzeichnend für das Buch, dessen Sprache zum Teil witzig ist, ist der Ausspruch der Mutter in unendlich vielen Variationen: „Da überlebt man, und das ist der Dank.“ Gibt den Lesenden einen Eindruck davon, wie sich die Shoah auch über Generationen noch auf das Zusammenleben und den Alltag von Jüdinnen und Juden auswirkt. Sehr empfohlen. Der Autor stellt das Buch im Rahmen der Veranstaltungsreihe Ferngespräch am 9.11.24 in der Synagoge haKochaw in Unna vor.Caroline Wahl: Windstärke 17 (in der Bibliothek sowie der Onleihe24 vorhanden)
Nachfolger von „22 Bahnen“, diesmal geht es um die jüngere Schwester Ida. Nach dem Tod der alkoholkranken, depressiven Mutter bricht sie alle Kontakte ab und verlässt traumatisiert die Heimat. Sie gelangt nach Rügen. Bei einem Ehepaar, das sie aufnimmt, kann sie wieder zu sich kommen, und schafft es letztendlich, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Geschrieben als Chat-Verlauf beschäftigt sich der Roman mit den Themen, Wut, Tod, Trauer und Weiterleben. Ermutigendes Ende.Khuê Pham: Wo auch immer ihr seid, 2021 (in der Bibliothek und der Onleihe24 nicht vorhanden)
Dieser Debutroman ist eine literarische Annäherung an die Familiengeschichte der aus Vietnam stammenden Zeit-Redakteurin Pham. Er schildert das Familienleben über 50 Jahre, allerdings nicht besonders packend.Irvin D. Yalom: Und Nietzsche weinte, 1996 (in der Bibliothek sowie in der Onleihe24 nicht vorhanden)
Der Autor ist einer der angesehensten Psychotherapeuten Amerikas, das merkt man dem kenntnisreich geschriebenen Buch an. Wien, 1882: Die Russin Lou Salome bittet einen Nervenarzt, den bekannten Philosophen Friedrich Nietzsche zu behandeln. Der Arzt unterzieht ihn einer „Rede-Kur“, die beiden freunden sich an und tauschen sich aus. Damit malt Yalom ein Bild des gesellschaftlichen und intellektuellen Wiens zu dieser Zeit. Anstrengend zu lesen, es gibt keine Steigerung.Percival Everett: James, 2024 (in der Bibliothek sowie der Onleihe24 vorhanden)
Der preisgekrönte Schriftsteller Everett schreibt in diesem Buch einen amerikanischen Klassiker neu. Es geht um Mark Twains: Die Abenteuer des Huckleberry Finn (1884 erstmals erschienen). Aus der Sicht des Sklaven Jim nimmt hier die spannende Geschichte ihren Lauf. Im Mittelpunkt steht die Sprache. So spricht James, sobald Weiße anwesend sind, eine einfache Sklavensprache, um den Weißen nicht zu signalisieren, dass er intellektuell zumindest ebenbürtig ist. Eine grimmige Auseinandersetzung mit Sklaverei und Rassismus, sehr gekonnt übersetzt. Dringend empfohlen.Angelika Overath: Unschärfen der Liebe, 2023 (in der Bibliothek vorhanden, in der Onleihe24 nicht vorhanden)
Roadnovel: Auf der 30-stündigen Zugfahrt von Chur nach Istanbul lässt der türkisch-griechische Lebemann Baran sein Leben und seine Liebe zu Cla genauso wie die Landschaft an sich vorbeiziehen. Overath schreibt poetisch, dezent und voller Anteilnahme, Briefe und Gedichte runden das stimmige Gesamtbild ab. Einzig der Paukenschlag am Ende passt nicht zu dem leisen, zurückhaltenden Roman.
Sachbuch:
David Grann: Der Untergang der Wager, 2024 (in der Bibliothek vorhanden, in der Onleihe24 nicht vorhanden)
Der Titel behandelt den Untergang eines Schiffes und die Konsequenzen für die Mannschaft. 1742, das Eroberungsschiff Wager bricht Richtung Chile auf, um eine Galeone zu überfallen. Kurz vor Chile läuft das Schiff auf Grund, die Mannschaft kann sich auf eine Insel retten … Auf Archivmaterial aufgebaut liest sich dieser Bericht spannend wie ein Krimi, ein wenig Faible für Nautik vorausgesetzt.Heinz Meyer: Höllenjahre: die Briefe meines Onkels aus dem Krieg. 1939–1945, hrsg. von Evi Simeoni, 2023 (in der Bibliothek nicht vorhanden, in der Onleihe24 vorhanden)
Die Briefe des Onkels der Herausgeberin aus dem Zweiten Weltkrieg, zuerst von der West- dann von der Ostfront, sind Zeitdokumente, mittels derer die Sicht eines 18-jährigen Anhängers der Nazis auf den Krieg und die Welt zu dieser Zeit anschaulich wird. Auch seine religiösen Überzeugungen bringen die Ansicht, dass er richtig handelt, nicht ins Wanken. Die Kommentare der Herausgeberin geraten allerdings etwas spekulativ.Lea Ypi: Frei, 2022 (in der Bibliothek sowie der Onleihe24 nicht vorhanden)
Wiedergabe eigener Erlebnisse der renommierten Professorin Ypi, die aus Albanien stammt. Mit diesem Buch beleuchtet sie die Umwälzungen in Albanien zu Anfang der 1990-er Jahre. Sie verdeutlicht mit ihren Schilderungen auch die Gegensätze von Kommunismus und Kapitalismus